Im März haben die Grünen ihren Entwurf für das Bundestagswahlprogramm unter dem Titel „Deutschland. Alles ist drin.“ vorgelegt. Zum Thema nukleare Abrüstung heißt es dort im Kaptiel „International zusammenarbeiten“:
„Unser Anspruch ist noch immer nichts Geringeres als eine atomwaffenfreie Welt. Wir wollen den transatlantischen Neustart nutzen, um mit den USA über Barack Obamas „Global Zero“ ins Gespräch zu kommen. Eine Welt ohne Atomwaffen gibt es nur über Zwischenschritte: Internationale Initiativen zur Reduzierung der Zahl von Atomwaffen, ein Verzicht der NATO auf jeden Erstschlag und eine breite öffentliche Debatte über veraltete Abschreckungsdoktrinen des Kalten Krieges. Dazu gehört ein Deutschland frei von Atomwaffen und ein Beitritt Deutschlands zum VN-Atomwaffenverbotsvertrag. Wir wissen, dass dafür zahlreiche Gespräche im Bündnis notwendig sind, auch mit unseren europäischen Partnerstaaten, und vor allem die Stärkung der Sicherheit und Rückversicherung unserer polnischen und baltischen Bündnispartner.“
Können wir als Anti-Atomwaffen-Kampagne zufrieden sein? Diese Frage haben sich Martin Singe und Marvin Mendyka gestellt und dazu einen Contra- und einen Pro-Artikel verfasst, die im Folgenden zu lesen sind.
Contra: Grünes Licht für neue Atombomben!
Die Aussagen im Wahlprogramm der Grünen zu Atomwaffen und nuklearer Teilhabe sind eine katastrophale Bankrotterklärung vor dem nuklearen Aufrüstungskurs der NATO. Die Grünen scheinen auf die schwarz-grüne Macht - wie in Baden-Württemberg - auch im Bund zuzusteuern. Bislang klare und eindeutige Aussagen zur Nuklearpolitik werden wie lästiger Ballast schon vor jeglichen Koalitionsverhandlungen ohne Not abgeworfen. Zwar werden jetzt im Gegensatz zum neuen Grundsatzprogramm von Ende 2020 – nachdem von friedensbewegten Basisgruppen Druck gemacht wurde – der Atomwaffenverbotsvertrag und ein „atomwaffenfreies Deutschland“ wenigstens perspektivisch erwähnt. Aber jeder reale politische Schritt in diese Richtung wird konditioniert und abhängig gemacht von Verhandlungen mit den USA und den anderen NATO-Verbündeten. Das ist die Fortsetzung der nuklearen NATO-Politik, die Deutschland seit Jahrzehnten verfolgt. Mit dieser Strategie werden die in Bau befindlichen neuen zielgenaueren US-Atombomben nach Büchel kommen, und die völkerrechtswidrige Politik der „Nuklearen Teilhabe“ in der NATO wird auf weitere Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hin verfestigt.
Wenn man dagegen noch den Antrag der Grünen Bundestagsfraktion von Juni 2020 liest, glaubt man kaum, dass dieser aus derselben Partei heraus formuliert wurde. Dort wird genau das benannt, was man im Grünen Wahlprogramm vergeblich sucht. Dort wurde nukleare Abrüstung als mutig-einseitig umzusetzende Maßnahme beschrieben, indem man mit Handlungen – statt mit folgenlosen Bekenntnissen – vorangeht: In diesem Antrag „Nukleare Teilhabe beenden – Atomwaffen aus Deutschland abziehen“ hieß es: „Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, selbst durch eine konsequente Abrüstungs- und restriktive Rüstungsexportpolitik voranzugehen, indem sie 1. sich für ein atomwaffenfreies Deutschland einsetzt, indem die Bundesregierung aus der operativen nuklearen Teilhabe der NATO aussteigt, auf die Bereitstellung von Bundeswehrpilotinnen und -piloten verzichtet und keine Trägersysteme mehr zur Verfügung stellt, 2. keine Kampfflugzeuge für die nukleare Teilhabe zertifiziert, ...“.
Wie bitter liest sich für Friedensbewegte dagegen das aktuelle Wahlprogramm, zu dem allerdings bis Ende April noch Änderungsanträge gestellt werden können: „Eine Welt ohne Atomwaffen gibt es nur über Zwischenschritte: internationale Initiativen zur Reduzierung der Zahl von Atomwaffen, einen Verzicht der NATO auf jeden Erstschlag und eine breite öffentliche Debatte über veraltete Abschreckungsdoktrinen des Kalten Krieges. Dazu gehören ein Deutschland frei von Atomwaffen und ein Beitritt Deutschlands zum VN-Atomwaffenverbotsvertrag. Wir wissen, dass dafür zahlreiche Gespräche im Bündnis notwendig sind, auch mit unseren europäischen Partnerstaaten ...“
Martin Singe
Pro: Das Grüne Wahlprogramm als Chance nutzen!
Die Kampagne „Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt“ setzt sich ein 1.) gegen die Aufrüstung der in Deutschland stationierten Atomwaffen, 2.) für deren Abzug und 3.) für den Beitritt zum UN-Atomwaffenverbotsvertrag (AVV). Dies sollten die Kriterien sein, die wir an das Wahlprogramm der Grünen anlegen sollten. Der Entwurf für das Programm nennt zwei von drei Forderungen ausdrücklich: Den Beitritt zum AVV sowie den Abzug der Atomwaffen. Und wer die Atomwaffen aus Deutschland abziehen lässt, kann sie auch nicht mehr aufrüsten. Wir könnten es uns einfach machen und den Grünen attestieren, dass ihr Wahlprogramm vollkommen im Einklang ist mit unseren Kampagnenforderungen. Dennoch gibt es Einwände, die gegen den Programmentwurf ins Feld geführt werden, die hier genauer beleuchtet werden sollen.
Der Wahlprogrammentwurf sagt nicht, wann die Atomwaffen aus Deutschland abgezogen werden sollen und wann der Beitritt zum AVV erfolgen sollen.
Da es sich um das Wahlprogramm zur Bundestagswahl handelt, ist davon auszugehen, dass das Programm in der kommenden Legislaturperiode umgesetzt werden soll, wenn es nach den Grünen ginge.
Der Abzug der Atomwaffen und der Beitritt zum AVV werden abhängig gemacht von Gesprächen mit anderen Staaten.
Das ist zwar richtig, aber ein Blick auf die vergangenen Versuche von Joschka Fischer oder Guido Westerwelle zeigt, dass der Weg eines Alleinganges Deutschlands schon zwei Mal nicht funktioniert hat. Was spricht dagegen, aus diesen gescheiterten Versuchen zu lernen? Grüne Fachpolitiker*innen berichten, dass bereits jetzt Gespräche mit politischen Kräften in den anderen an der nuklearen Teilhabe beteiligten Staaten geführt werden. Auch dort gibt es ein großes Interesse daran, die Atomwaffen endlich loszuwerden. Auch in Belgien, den Niederlanden und Italien befürwortet eine Mehrheit der Bevölkerung den Abzug der Atomwaffen.
Was ist mit den baltischen Staaten?
Für Skepsis bei manchen Friedensbewegten sorgt auch der Bezug auf die Sicherheit der polnischen und baltischen Bündnispartner. Hierzu sei gesagt, dass die in Büchel stationierten Atomwaffen aufgrund der Reichweite ihrer Trägersysteme, der Tornados, überhaupt nicht in der Lage wären, einen Beitrag zu deren Sicherheit zu leisten (unter der Voraussetzung, dass man durch nukleare Abschreckung überhaupt für Sicherheit sorgen könnte…), wie eine von Moritz Kütt erstellte Studie für „Greenpeace Deutschland“ gezeigt hat. Dieses Wissen ist auch bei den Grünen angekommen. Grüne Außenpolitiker*innen sprechen darüber ganz offen in ihren Interviews und Podcasts.
Katastrophale Bankrotterklärung?
Auch wenn der Programmentwurf nicht mehr in derselben Schärfe formuliert sein mag wie manch ein Antrag, den die Grünen in den vergangenen Jahren in der Opposition gestellt haben, stellt er keine „katastrophale Bankrotterklärung“ dar. Etiketten wie diese sollten wir uns für andere Parteien aufbewahren, die sie wirklich verdient haben. Alle Forderungen, die unserer Kampagne wichtig sind, sind in dem Programmentwurf enthalten. Das Wahlprogramm der Grünen wird wahrscheinlich eines der atomwaffenkritischsten Programme werden, die im September zur Wahl stehen. Wir sollten dies als Chance nutzen!
Marvin Mendyka
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